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Copyright: © 2008 Angelika Mitlmeier

 

 

Inhalt

Das gute Ende eines miesen Arbeitstages

Fußballspiel auf der Bachwiese

Ein Eimer voller Steine

Felix

Lothars erster Auftrag 

Wo die Narziss(t)en blühen

 

 

 

 

 

Wo die Narziss(t)en blühen

Es war einmal - und es ist, inmitten von uns, dieses Land, indem die Narziss(t)en blühen.
In leuchtend grellen und auch sanften  pastellartigen Farben, duftend, wohlriechend und auch so intensiven Geruch verbreitend, dass er die Schleimhäute reizt.  
Wir sehen sie, wir riechen sie, wir fühlen sie und doch nehmen wir sie nicht wahr. 
 
Eine mächtige Königin, das Oberhaupt dieser verwunderlichen, geheimnisvollen Blumen, genannt "Narziss die Goldene" regiert das Land und ihre Untertanen, welche bewundernd zu ihr aufblicken und sich in ihrem Schatten von ihr nähren lassen.
Wenn der Regen die Natur mit kostbarem Nass versorgt, läßt sie, die Goldene, alles Wasser, das sie selbst nicht braucht, ihren Blumenkindern und Gefährten zufließen.
Die, die ihr am nächsten stehen, wachsen etwas kümmerlich in ihrem Schatten, da ihre großen, ausladenden, verzweigten Blumenstile mit den daraus empor sprießenden, übergroßen Blättern und Blütenknospen, alles Sonnenlicht in ihrem Umkreis auffangen, damit sie selbst kräftig und stark wachsen und sich vermehren kann.
Ihre Kümmerlinge schützen mit ihrem eigenen Pflanzenleib die Wurzeln der Goldenen, hegen und pflegen sie, im Bewusstsein, dass auch sie verdorren würden, wenn die Königin anfinge, die Kälte zu spüren und daran zu Grunde ginge.
Viel zu eng miteinander verflochten, haben sie ihre eigenen Wurzeln in die des Blumenoberhauptes hineinkriechen lassen und sind ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
 
Doch manche Samen trug der Wind, der sich entschlossen hatte, der Königin keine Folge zu leisten, weiter hinaus in das Land.
Weitab vom dichten Narziss(t)enfeld legte er sie sanft auf den weichen, nahrhaften Mutterboden, wo sie selbst ihr Wurzelgeflecht ausbreiten durften, gerade so, wie es ihrer im Samenkorn verborgenen Lebenskraft entsprach.
Kaum reckten die ersten Sprossen ihr Köpflein durch die Erde, dem Licht entgegen, schickte die Blumenkönigin ihre Gärtner aus, um die unerwünschte Saat zu suchen, die sie Unkraut nannte, um sie daran zu hindern, zu einer neuen Art heran zu wachsen.
 
Es darf im Königreich der Goldenen nicht sein, was nicht sein darf.
Eigene Wurzeln, in eigenem Mutterboden zu verflechten, ohne mit ihr verflochten zu sein, ist eines der größten Verbrechen und wird mit dem lebenslangen Blumentode bestraft. Unkraut ist nicht willkommen und wenn es noch so wundervolle, filligrane Blüten treibt, wohlriechend  Duftwolken verströmt und Heilkräfte in sich birgt - Nein, Nein und nochmals Nein.
 
Artig und folgsam zogen die Gartenarbeiter auf ihr Geheiß hin aus, die Sprößlinge zu suchen, zu finden und mit den von ihr gespendeten dicken, großen Blättern zu bedecken, auf dass sie nie das volle Sonnenlicht genießen und den lauwarmen, wohltuenden Regen spüren sollten.
Lange, sehr lange dauerte ihre Reise durchs Land, auf der Suche nach den Keimenden und Wachsenden, die Vater Wind auf seinen Flügeln weit fort, in Sicherheit hatte bringen wollen - jedoch nicht weit genug, denn sie wurden gefunden.
 
So kam es, dass einer der Unkrautsamen bereits zu einer kräftigen, bunt schimmernden, wohlgeformten Blume herangwewachsen war, die selbst schon eigene Triebe hervorgebracht hatte. Kleine, zarte, empfindsame  Blättlein lugten zwischen den Erdkrümeln neugierig hervor, reckten ihre zarten Stile dem Licht entgegen und schlürften durstig das lebensspendende Nass.
Als die Lakaien der Goldenen dies erblickten, erschraken sie.
Nichteinmal alle Blätter gemeinsam, die die Königin gespendet hatte, konnten das neu entstandene Unkrautfeld bedecken, um es langsam zu ersticken.
Ohne ihren Auftrag auszuführen, trauten sie sich jedoch die Heimreise nicht antreten und so beschlossen sie, wenigstens das Mutterunkraut zu bedecken, so gut es ging und dessen Sprösslinge auszugraben, um sie der Königin als Geschenk darzubieten.
 
So wurde es getan.
 
Die goldene Herrscherin befahl, die Unkrautsprößlinge nahe neben sich in die Erde einzugraben, den Boden um sie herum festzustampfen, damit ihre nahrungssuchenden Wurzeln keine Möglichkeit bekamen, sich frei zu entfalten, um ebenfalls zu bunten, filligranen Unkrautblumen heranzuwachsen, sondern sie so, wie es sich gehört, zu Narziss(t)en heranreiften.
 
Einer der Sprößlinge machte ihr alle Ehre und für ihn formte sie ihre Blätter zum Trichter, wenn es regnete, beugte ihr Knospenhaupt zur Seite, damit er viel Sonne empfangen konnte und er wurde ihr Goldener Sproß, ihr liebster Trieb, obwohl er nicht ihr eigener gewesen war.  
Der andere jedoch trieb es ihr mit seinen buntschillernden Blütenblättern, seinem starken Blumenstil und der unverleugbaren Ähnlichkeit mit der Mutterunkrautpflanze zu bunt. Nur wenn sie Lust und Laune hatte, gab sie ihm zu trinken und nur, wenn die Sonne so stark schien, dass sie es nicht verhindern konnte, durfte er die hellen Strahlen genießen.
Er machte ihr keine Ehre - zu sehr war er Unkraut geblieben, wie einst eines ihrer vom Wind entführten Samenkörner.
 
Die Jahre zogen durchs Land, währendessen das ausgewachsene, von der Blattspende der Königin schwer bedeckte,  fast erdrückte Mutterunkraut es geschafft hatte, der Last mit aller Kraft zum Trotz, ihr schillerndes, duftendes Blumenhaupt durch die verrottenden Blätter hindurch wachsen zu lassen.
Die Mutterpflanze brauchte einige Jahre, um sich vollständig vom langsamen Tod, den ihr die Goldene auferlegt hatte, zu erholen.
Viele Tage des Regens und auch viele Tage des Sonnenscheins, liebevoll gestreichelt von Vater Wind, fand sie zurück ins Leben, um wieder zu der Pflanze zu erblühen, die sie einst gewesen war.
 
Dann erst, als ihre erste, kräftige Blütenknospe ihre Blätter entfaltete,  konnte sie zu Boden blicken.
Was sie sah, zerbrach ihr das Herz.
Von dort, wo ihre so sehr geliebten kleinen, mutigen Sprösslinge, die als kräftige, allen Unwettern gewachsenen Triebe in ihrer Erinnerung lebendig waren und neugierig zwischen den Erdkrumen hervorgelugt hatten, wurde sie aus finsteren Augen angestarrt - den tiefen, kalten, schwarzen Löchern im Mutterboden, von den Gärtner gegraben.
 
Sie wusste, es würde kein Wiedersehen mit ihren geliebten Kinderpflänzchen mehr geben.
Zu lange hatte sie gebraucht, um sich vom langsamen Tode zu erholen.
Zu viel Zeit war vergangen, bis sie erneut ihre Lebenskraft zurück gewonnen hatte, um als die wundervolle, einzigartige Blume zu erblühen, die sie einst gewesen war.
Das unerwünschte Unkraut, das einst Väterchen Wind als Samenkorn liebevoll auf seinen Schwingen davongetragen und sanft auf nahrhaftem, weichem Mutterboden abgesetzt hatte.
 
Ihre eigenen Sprößlinge waren nun auch zu Narziss(t)en herangereift und würden eigene Pflänzchen sprießen lassen.
Weit entfernt davon, sie dem Unkraut nahe kommen zu lassen.
Dafür, das wusste sie, hatte die Goldene mit ihrem Gefolge gesorgt.
Niemals mehr würden ihre geliebten neugierigen Triebe mehr erinnern wollen, einst Unkraut gewesen zu sein.
Weder der zum Goldenen Trieb erkorene, noch der, der als missratene Narziss(t)e im Narziss(t)enfeld dahinvegitierte. Zu engverflochten hatten sie ihre Wurzeln mit der Goldenen Herrscherin.
 
Doch auch Vater Wind hatte die Zeit genutzt und wie er es seit jeher , auf jedem seiner Ausflüge getan hatte,  unzählige Samenkörner mit auf seine Reise genommen, um sie in eigenen Urgrund zu betten.
Das Mutterunkraut umringend, wuchsen vielfältige  Unkräuter, Heilpflanzen, Schmuckblumen und sogar gesundes Gemüse, wie auch Obstbäume. Nun erkannte die buntschillernde Unkrautpflanze die Vielfalt um sich herum und ihr Herz begann wieder zu leuchten und im Takt der Freude und des Glückes zu schlagen.
 
Hier, wo der Boden ihre Wurzeln liebevoll angenommen und bewahrt hatte, wo die Sonne ihr immer wieder warm über die Blüten und Blätter streichelte und der Regen sie trinken ließ, soviel sie brauchte, um ihren Durst zu stillen - Hier war es lebendig, bunt und wunderschön.
Käferchen durften sich an ihr bedienen und die Feldmäuse und Hamster durften an ihr knabbern.
Ihnen spendete sie fortan all ihre Samen, die sie noch hervorbringen konnte, aber nicht um neue Triebe sprießen zu lassen, sondern um zu nähren, was bereits lebte.
Hier war sie glücklich, willkommen und hier durfte sie sein - was sie war. Die wundervolle Blume, die andere Unkraut nennen. 

 

 

 

 

 

 

Das gute Ende eines miesen Arbeitstages

 

Da saß er nun, am Ende eines miesen Arbeitstages, unbequem zusammengekrümmt, im klapprigen Linienbus, mit dem er jeden Tag von seiner Arbeitsstelle nach Hause fuhr.
Verkrampft versuchte er Abstand zu dem  neben ihm sitzenden, nach Alkohol und diversen anderen Dingen miefenden, schmierigen Mann zu halten, den er nur allzu ungern berührt hätte.
Das fehlte ihm nach diesem wieder einmal missglückten Tag gerade noch.

Am besten, dachte er, wäre er heute Morgen gar nicht erst aufgestanden.
Nun musste er noch befürchten, dass von seinem Mitpassagier einige ungebetene Gäste auf ihn übersprangen, zumal  auf dessen Schoß ängstlich zusammengekauert eine Handvoll ungepflegtes, verfilztes haariges Etwas lag und ihn aus großen Augen anguckte.
Das Fellbündel beherbergte  bestimmt Flöhe oder Läuse, aber nach diesem Scheißtag konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten und so hatte er es vorgezogen, trotz alldem, den Sitzplatz in Anspruch zu nehmen, in der Hoffnung, das Ungeziefer möge bleiben wo es zu Hause war.

Wie sollte es nun weitergehen? Mit 35 Jahren hatte er vor zwei Jahren seine Scheidung hinter sich gebracht, ein 14tägiges Besuchsrecht für seine beiden Kinder, Kevin und Sonja, zugesprochen bekommen, war zu  monatlich sage und schreibe  750€ Unterhaltszahlungen verdonnert worden und wusste nun nicht mehr, wo ihm der Kopf stand.
Robert war es nie gewohnt gewesen, für sich selber zu sorgen. Seine bildhübsche und kluge Ex-Frau Elvira, eine vorbildliche Hausfrau und Mutter, kümmerte sich während ihrer 10 jährigen
Ehe perfekt um alle Belange des Familienlebens. Das einzige wofür er selbst zu sorgen gehabt hatte, war es, den Lebensunterhalt zu verdienen.

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Damals kam er abends viel zu oft müde, gestresst und schlecht gelaunt vom Büro zurück, in dem er stets freundlich zu den Kunden sein musste und sah es als selbstverständlich, in seinem ordentlich aufgeräumten Heim ein gutes Abendbrot serviert zu bekommen, nachdem ihn seine Kinder fröhlich begrüßt hatten.
Elvira empfing ihn in den guten Tagen an der Haustüre mit einer liebevollen Umarmung, einem Kuss auf den Mund und den Sätzen:  „Na, mein Schatz? Wie war dein Tag? Komm, lass uns gemeinsam essen und dann die Kinder zu Bett bringen!“
Meist entgegnete er mürrisch und ausgelaugt, einen furchtbar anstrengenden Arbeitstag gehabt zu haben, er wolle nach dem Essen nur noch seine Ruhe, die Füße hochlegen, ein wenig vor dem Fernseher entspannen und dann ins Bett. 
Ohne Widerspruch hatte Elvira dann jedes Mal den traurigen , inzwischen 4 jährigen Kevin und die enttäuschte 6jährige Sonja liebevoll gewaschen, mit ihnen zum Ausgleich ein wenig herumgealbert und zum Einschlafen noch Tiergeschichten vorgelesen.
Tiergeschichten liebten die Beiden über alles.
Ach, wie sehr wünschten sie sich einen Hund oder ein Kätzchen. Elvira wäre einverstanden gewesen, hätte sie doch die Hauptlast zu tragen gehabt, aber, nein, er, Robert, hatte es verboten.
Kein Tier käme ihm ins Haus. Es seien unnütze Fresser und er konnte nicht verstehen, wie ein
Mensch sich nach so einem haarigen, kratzenden, schnappenden Biest sehnen konnte.

Nun saß er grübelnd, in Gedanken versunken, neben diesem schmuddeligen Mann und am liebsten wäre er ausgestiegen um nicht in seine angemietete Zweizimmerwohnung zurückgehen zu müssen. Dort wartete die Schmutzwäsche von zwei Wochen auf ihn, die noch nicht einmal in Körben sortiert, sondern stattdessen überall schlampig in den Räumen verteilt, lag.


In der Küchenzeile stapelte sich das Geschirr ebenso wie auf dem Wohnzimmer- und dem Esszimmertisch.
Der Kühlschrank hatte sich mit Sicherheit auch nicht selbst gefüllt, also würde sein Abendmahl aus einer Scheibe mehrere Tage alten Schwarzbrotes bestehen, für das er hoffentlich wenigstens noch einen kleinen Rest Brotaufstrich finden würde, der nicht von Schimmel befallen war.

Niemand erwartete ihn und würde ihn freundlich begrüßen, niemand ihn fragen, wie sein Tag gewesen sei, keine Sonja ihm stolz und fröhlich ein selbst gemaltes Bild unter die Nase halten, kein Kevin brummend mit dem Miniporsche entgegen fahren, vor ihm mit einem furchtbar grellen, nachgeahmten Bremsenquietschen anhalten, um ihm dann in die Arme zu springen. Wie sehr er diese Lebendigkeit  vermisste!

Er hätte es nun sogar liebend gerne in Kauf genommen, wenn in mitten zwischen den ganzen Zweibeinern seiner Familie ein Vierbeiner rumgehüpft wäre. Vielleicht, meinte er, hätte er sich auch an so ein kleines Hundchen gewöhnen und Freundschaft damit schließen können.
Er bereute seine Sturheit und Verbohrtheit nun zutiefst.

 

Vor einigen Tagen hatte er einen Mann beobachtet, ungefähr in seinem Alter, der sich köstlich im Park mit seiner weiß-braun-schwarzen, zotteligen Promenadenmischung amüsierte. Die beiden strahlten sovieles an Herzlichkeit, Lebensfreude und Harmonie aus, dass es Robert ganz warm ums Herz wurde. Lange saß er auf einer Parkbank und sah mit wachsender Anteilnahme und Begeisterung zu, wie der fremde Mann seiner „Nicki“ die Fresbeescheibe zuwarf, die sie im Flug auffing und  jedes Mal sofort freudig zurückbrachte.
Im Laufe des Nachmittages gesellte sich ein kleines Pudelmännchen samt Frauchen  dazu und es war eine wahre Freude, den beiden Fellnasen beim Toben und Spielen, wie sie sich miteinander im
Gras wälzten, gegenseitig zwickten und jagten, zuzusehen.
Die Hundehalter waren damit beschäftigt, sich über ihre Vierbeiner auszutauschen und führten ein fröhliches, entspanntes Gespräch.

Hätte er doch seinen Kindern und seiner Frau diesen Herzenswunsch nicht verwehrt.
Nach diesen Stunden im Park, hatte er angefangen zu verstehen. Wenn schon er, Papa, nicht der lustige, geduldige Spielpartner für seine Kinder sein konnte, schließlich hatte er selber auch nie einen Vater gehabt, der mit ihm gespielt hätte…. So wäre ein kleines Hündchen doch eine Bereicherung für seine Familie gewesen.
So empfand er das jetzt, nachdem er selbst die Einsamkeit kennen gelernt hatte.

Ein Kollege im Büro brachte seinen wohlerzogenen Hund täglich mit zur Arbeit und eigentlich war dieser Golden Retriever nie negativ aufgefallen, lag brav unter dem Schreibtisch zu Füssen seines Herrchens, das die Mittagspause stets mit „Raudi“, so hieß der Goldi, für einen Bummel durch den Park nutzte und danach locker, ausgeglichen und wohl gelaunt an den Arbeitsplatz zurückkehrte. Heute beneidete Robert diesen Menschen um seinen Vierbeinigen Freund und auch um dessen intaktes Familienleben mit Frau und Kindern.

Elvira, das wusste Robert genau, würde niemals zu ihm zurückkehren, dazu war die Scheidung eine zu heftige, schmutzige Schlammschlacht gewesen.
Er hatte aus gekränkter Eitelkeit und verletztem Stolz heraus kein gutes Haar an ihr gelassen und damit alle Reste der Verbundenheit und Zuneigung die vielleicht noch existierten hätten, vollständig zunichte gemacht.

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Die Reue kam zu spät.
Sie brauchte ihn nicht, um wieder glücklich zu werden. Sie war eine Klasse Frau, liebevoll,
humorvoll, ordentlich, eine fürsorgliche, verantwortungsbewusste Mutter und dazu noch intelligent. Vor einigen Monaten hatte sie einen neuen Mann kennen gelernt, von dem sogar seine Kinder an den Besuchstagen  schwärmten und begeistert erzählten, was sie mit ihm alles unternehmen würden und wie toll er spielen könne.
Auf der einen Seite tat es ihm im Herzen weh, den ungezwungenen, freudigen Beschreibungen seiner Kinder über diesen Lebenspartner seiner Exfrau zuzuhören - andererseits war er froh,
seine Lieben in guten Händen zu wissen. Das hatte er in den letzten zwei Jahren gespürt:

Seine Kinder waren ihm das Liebste auf der Welt und er bereute aufrichtig, ihnen kein besserer Vater gewesen zu sein.
Aber Kevin und Sonja besuchten ihn nun gerne.
Er ließ sich jedes Mal etwas Neues einfallen um ihnen einen schönen Sonntag bieten zu können:
Er besuchte mit ihnen Freizeitparks, ging mit ihnen in den Zirkus und konnte inzwischen selber stundenlang im Spiel mit den Legobausteinen versinken.
Am meisten genossen sie es aber, zu dritt Ausflüge in die Natur zu unternehmen.
Schlechtes Wetter störte sie dabei nicht. Oft liefen und hüpften sie mit Regenmänteln und Gummistiefeln ausgestattet, lachend und kreischend durch Wasserpfützen, machten Brotzeit, die
er im Rucksack mitschleppte und er suchte mit ihnen in einem Naturlexikon für Kinder, die Namen der Pflanzen und Tiere , die ihnen auf ihren Exkursionen begegneten, heraus.
Bachstelzen waren für ihn und seine Sprösslinge nicht mehr einfach nur Vögel, sondern Bachstelzen, und ein Feuersalamander ebenso wenig eine schwarz-gelbe Eidechse
wie ein Laubfrosch eine Kröte.

 Er selbst war neugierig und wissbegierig geworden wie ein Kind und lebte von einem Besuchstag auf den nächsten in 14 Tagen. Die Zeit dazwischen litt er intensiv unter dem Alleinsein und der
Einsamkeit.
Das Bewusstsein, nichts mehr rückgängig machen zu können schmerzte ihn und er fühlte sich häufig wie gelähmt.
Deshalb fiel es ihm auch so schwer, sein Zu Hause wohnlich und gemütlich zu gestalten.
Für sich alleine? Wozu? Das war er selbst sich nicht wert.

Der Bus drosselte seine Geschwindigkeit und hielt an. Die Haltestelle die wenige hundert Meter von seiner Wohnung entfernt lag, war erreicht.
Froh darüber, endlich wieder frische Luft atmen zu können, beeilte er sich so schnell als möglich dem abgestandenen Mief im Bus zu entkommen.
Nicht nur er stieg aus, auch sein Banknachbar mit dem bemitleidenswerten Geschöpf, das wohl mal ein Hund werden wollte, verließ das Fahrzeug.
Aber, was sollte das? Diese Saufnase torkelte ins Bushäuschen an der Haltestelle, schubste das inzwischen winselnde Hündchen, das noch ein Welpe war, unter die Sitzbank, lallte etwas Undeutliches vor sich hin, das wie „Bleib da du Scheißköter, irgendwer wird dich schon finden!“ klang, drehte sich um , stieg wieder  ein und fuhr davon.

Robert stand fassungslos in dem von einer Straßenlaterne schwach beleuchteten Haltestellenhäuschen und richtete seinen Blick zuerst ratlos auf den Welpen, suchte danach mit den Augen die Umgebung nach weiteren Personen ab und stellte fest:
Sie waren nun beide allein.

Er, Robert: die meiste Zeit einsamer Exehemann, Vater zweier toller Kinder, auf die er verdammt stolz war, und:
Es: ein kleines, grau-weiß erscheinendes, schmutziges, stinkendes Hundebaby mit verklebtem, ungepflegtem Fell, das inzwischen vorsichtig, mit eingezogener Rute, oder besser gesagt dem an seinem Ende blutverkrustet scheinenden Rutenstummel, den Bauch eng an den Boden gepresst, zwischen seine Beine gekrochen war.
Dort lag es nun, als zitterndes Häufchen Elend fast regungslos, aber es hatte aufgehört zu winseln und wartete hilflos ab, was nun passieren würde.
Ein kleiner Tropfen salzigen Wassers fiel dem kleinen Hundemann auf sein Näschen und er blickte mit seinen treuen, braunen Äuglein neugierig in die Richtung aus der dieser eigenartig schmeckende Tropfen gefallen war.
Er sah Robert weinen, spürte mit dem ihm eigenen, sensiblen Sinn eines Tieres, dass dieser Mensch jetzt auch nicht allein gelassen werden wollte und schmiegte sich noch enger an dessen Beine, schließlich empfand das Hundebaby selbst  eine tiefe Sehnsucht nach Nähe, Wärme und Geborgenheit.

Vor ein paar Tagen hatte es der nach Alkohol stinkende Mann einfach von seiner Mutter und den Geschwistern weggeholt und seitdem mit ihm in einem kleinen unordentlichen, schmutzigen Zimmer gehaust, wo es auch seine Notdurft verrichtete wenn der Mann nicht mehr in der Lage war, mit ihm ins Freie zu gehen. Dafür bekam es Schläge und Tritte ohne zu verstehen wofür. Einmal zwickte ihn der Betrunkene sogar so heftig in der Türe ein, dass sein Schwänzchen abgeklemmt worden war.

Trotzdem lag es nun hoffnungsvoll zu Roberts Füssen und fühlte, dass dieser ihm wohlgesinnt war. Der große, unbekannte Mann beugte sich langsam und vorsichtig zu ihm,dem hilflosen, haarigen Würmchen hinunter, zog seine Jacke aus und wickelte es sanft darin ein um es zärtlich auf dem Arm an sich gekuschelt nach Hause zu tragen.

Ganz egal, ob die Jacke danach stinken, Flöhe beherbergen und mit verklebtem Hundehaar geschmückt sein würde. Schließlich wartete die Waschmaschine schon lange genug darauf, eingeschaltet zu werden und auf diese eine Jacke kam es nun wirklich auch nicht mehr an.
Robert freute sich plötzlich darauf, für sich und seinen neuen Mitbewohner ein angenehmes Heim u schaffen zu dürfen.
Ins Büro, das wusste er, konnte er den Kleinen mitnehmen und sein Kollege würde ihm mit Rat und Tat sicher gerne hilfreich zur Seite stehen, wenn er Fragen bezüglich der Hundeerziehung und Betreuung hätte.

Aber am aller glücklichsten machte ihn der Gedanke an die Ausflüge, die er, Robert, mit Kevin, Sonja und "Hope", so nannte er sein Findelkind, künftig gemeinsam in freier Natur erleben würden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fußballspiel auf der Bachwiese

 

Bewegungslos, zerkratzt, etwas schlaff und schmutzig lag er nun in der Wiese, inmitten von Gänseblümchen, auf denen vereinzelt klitzekleine Käfer krabbelten.
Auf saftigem Löwenzahn und fettem, nahrhaftem Gras, nach dem sehnsüchtig eine wunderschöne zierliche, schwarze Stute den Kopf durch den Weidezaun reckte, um sich ein paar Mäuler davon abzurupfen bevor der Bauer sie in den Stall führen würde.

Der Sommer hatte sich dem Ende zugeneigt und die Tage begannen merklich kürzer zu werden. Dennoch war diese ungenutzte Weidefläche, die der freundliche Landwirt den Kindern der Dorfgemeinschaft zur Verfügung gestellt hatte, meist bis in die Dämmerung hinein von Lebendigkeit erfüllt.

In allen Altersstufen kannten und liebten die Kinder und Jugendlichen „ihre Bachwiese“, wie sie vor Jahrzehnten auch von ihren Großeltern schon genannt worden war.
Das Bächlein, das sie an der Nordseite begrenzte, wurde zum Abkühlen von lachenden, lärmenden, fröhlich spritzenden Kindern ebenso genutzt wie von den Ruhigeren, meist Jungs, die geduldig ihr Glück beim Angeln versuchten.
Manchmal saßen frisch verliebte Pärchen zärtlich Händchen haltend am Ufer und ließen verlegen die nackten Beine ins kühlende Nass baumeln.
Viele Mädchen kamen fast täglich an den Weidezaun um die herrlichen Pferde des herzensguten Mannes zu besuchen, zu füttern, zu streicheln und manchmal, wenn er gerade Zeit hatte, ließ er sie sogar aufsitzen und führte sie mit einer Engelsgeduld einmal in der Weide den ganzen Zaun entlang, herum.
Der unbefestigte Feldweg, der an diesem Fleckchen Natur entlang führte, lag gegenüber des kleinen Wäldchens, in das sich die älteren, etwas fortgeschrittener verliebten Paare gerne heimlich davonstahlen um ein wenig Zweisamkeit zu genießen, sofern sie das Glück hatten , nicht von den noch unreifen Bengels und Lausdirndeln verfolgt und kichernd kommentiert zu werden .

Mitten in diesem kleinen idyllischen Paradies lag er also, einsam und verlassen, kein Kind mehr weit und breit, das nach ihm suchte und ihn fröhlich durch die Luft schoss.
Einige Wochen zuvor war Matthias` 8. Geburtstag gewesen und lange hatte seine Mutter in verschiedenen Sportgeschäften nach genau ihm, diesem exklusiven Modell eines Fußballs, in limitierter Auflage, gesucht und ihn schließlich über den Fachhandel bestellen lassen.

Mathse, so wurde Mathias von seinen Kumpels genannt war stolz wie Oskar, als seine allein erziehende, sehr beschäftigte Mama, ihm den Ball überreicht hatte.
Er wußte das teuere Geschenk sehr zu schätzen.
Seine Mutter musste hart für ihrer beider Lebensunterhalt arbeiten.
Kindesunterhalt bekam sie nicht und seinen Vater hatte er nie gesehen, denn dieser machte sich aus dem Staub als er hörte dass versehentlich produzierter Nachwuchs unterwegs war.
So fuhr die Mama täglich in die nächste Stadt, in der sie als Ladenhilfe in einem Schugeschäft arbeitete, sich an schweren Kartons den Rücken krumm schleppte und auf den Knien vor den Kundschaften herumrutschte um ihnen stets freundlich zuvorkommend möglichst viele Schuhe zu verkaufen.

Bestimmt wäre der Vater von Mathse stolz auf diesen wunderbaren, fast immer fröhlichen, unkomplizierten und sogar sehr lernbegierigen Sohn gewesen, hätte er ihn je kennen gelernt.
Mathse war nicht nur Fußballfan, sondern auch musisch sehr begabt.
Gerne hätte er Klavierstunden genommen, doch für mehr als den Flötenunterricht in der Schule reichte das Geld nicht aus.
Mathse war ein wißbegiereger Junge, an sehr Vielem interessiert und lernen war ihm keine lästige Pflicht, sondern er spürte, dass es ihn bereicherte.
Er wollte es zu Etwas bringen, um sich später einmal ein eigenes Haus leisten und seiner Mutter das Leben erleichtern zu können.

Wenn Mathse nicht gerade über den Schulbüchern brütete und Wissen in sich hinein stopfte oder aber auch pflichtbewusst seiner Mutter im Haushalt zur Hand ging,zugegebenermaßen natürlich ab und zu begleitet von Widerspruch weil es für einen 8 Jährigen selbstverständlich Schöneres gibt, als Geschirr zu spülen oder den Staubsauger durch das Wohnzimmer zu schieben, tobte er ausgelassen mit seinen Klassenkameraden und Freunden durchs Gras, schoss eifrig wie ein Weltmeister auf die von Jugendlichen aus Brettern selbst zusammengenagelten Tore und jedes Mal wenn er traf gab`s  ein allgemeines, lautstarkes Freudengeheul.

Jeder kam an die Reihe und oft waren ihrer so Viele, dass sie sogar Mannschaftsspiele veranstalten konnten. Manchmal spielten 7 gegen 7,oft sogar 9 gegen 9 Spieler. In dieser abgelegenen, ländlichen Gegend gab es noch keinen DSL-Anschluß, so dass sich die Kids nicht hinter Computern verkrochen, sondern bei Wind und Wetter wie in den "guten, alten Zeiten" ihr Freizeit mit Abenteuern in der Natur, von der es hier eine Menge gab, verbrachten.
Natürlich gab es auch Grüppchen, die sich bildeten, sich als Banden bezeichneten und gegenseitig bekriegten.
Auf der einen Seite die Bachwiesenbande und auf der anderen Seite die Wald-dorfbande, mit den Kindern aus dem Dorf hinter dem Wald.
Wenn sie kämpften, bewarfen sie sich mit Fallobst, lauerten einander auf um sich gegenseitig in den Bach zu werfen oder auch manchmal ihre Geiseln im Wald an den Martepfahl zu binden.
Doch schon am nächsten Nachmittag, wenn die Schulischen Aufgaben erledigt waren, traf man sich wieder um gemeinsam Tore zu schießen.

Mathse träumte auch davon, eines Tages ein ganz berühmter Fußballstar zu werden, im Fernsehen Interviews zu geben, sehr viel Geld zu verdienen und seiner Mutter das kleine Häuschen, in dem sie zur Miete wohnten, zu kaufen und zu schenken.

Seit seinem Geburtstag war das Wetter fast täglich Fußball tauglich gewesen und die Buben hatten fleißig trainiert.
Heute nun war eine kleine, gemischte Kinderschar aus dem Walddorf zu ihnen gekommen und sie wollten ernsthaft auf dem Fußballplatz, "ihrer" Bachwiese, kämpfen, um die Sieger zu ermitteln.

Die Mannschaft  der Bachwiese bestand aus 9 Feldspielern, einem Torwart mit riesengroßen Skihandschuhen, und Elfie, einem  rotblonden, kurzhaarigen Mädchen aus Mathses Klasse, an der ein Junge verloren gegangen war.
Sie durfte auf der Ersatzbank sitzen und freute sich darauf, vielleicht auch einmal für ein paar Minuten mitspielen zu können, sofern sie unschlagbar um viele Tore vorne liegen würden.
So richtig anerkannt und respektiert wurde sie als Fußballspielerin unter den Jungs nicht, obwohl sie sich bei den Bandenkriegen schon oft bewährt hatte, indem sie zum Beispiel einmal mutig die anderen ausspioniert hatte und dabei sogar geschnappt und an den  Marterpfahl gefesselt worden war.
Obwohl Kurti, der Chef der Wald-dorfbande sie mit Brenesseln an den nackten Beinen gestreichelt und ihr eine handvoll furchtbar juckender Kerne der Wildrosenfrüchte, den Hagebutten,hinten ins T-Shirt gesteckt hatte, verriet sie nicht, dass die anderen ihrer Gruppe, mit rohen Eiern bewaffnet in der Nähe der Brücke auflauerten.

Nun wartete sie auf ihre Chance, sich auch als Fußballmädel zu beweisen.
Doch leider kam es nicht soweit.
Gleich nach der Halbzeit, es stand 4 zu 3, natürlich für die Bachwiesenkinder, wobei Mathse selbst 2 Tore geschossen hatte, da passierte es:
Der Gegnerische Abwehrspieler kam in einem Karacho angerannt, wollte Mathse den Ball abnehmen, grätschte ihm unfair, ohne Ballkontakt von hinten in die Beine und mit einem knackenden, durch Mark und Bein gehenden, Gänsehaut verursachenden Geräusch stürzte Mathias , einen grellen Schrei ausstoßend zu Boden.

„Au au au, rief er“, Tränen strömten über seine Wangen und er wand sich, mit den Händen seinen linken Knöchel umfassend, vor Schmerzen im schon abendlich feucht gewordenen Gras.
Sofort lief Elfie geistesgegenwärtig hinüber ins Bauernhaus um Hilfe zu holen und erzählte dem Pferdebauern dass sich Mathse sicher schwer verletzt haben müsse, denn sie hatte das Knacken gehört und ihn vorher noch nie so laut und heftig weinend und schreiend erlebt.

Zufälligerweise schaute Mathses Mutter gerade aus dem Küchenfenster, just in dem Moment, als er unter  Schmerzen zusammengebrochen war. Eiligst stolperte sie auf kürzestem Wege durch den Bach, der an ihrem Haus vorbeilief. Den Umweg über die Brücke wollte sie nicht in Kauf nehmen.
Bei den Kindern angekommen, kniete sie sich neben Mathse und rief auf ihrem Handy sofort den Rettungswagen, als sie gesehen hatte, wie geschwollen und verfärbt das Fußgelenk aussah. Ihr Auto war in der Reaparaturwerkstatt und sie sah keine andere Möglichkeit, ihren verletzten Jungen zum Arzt zu transportieren.

Sie empfand tiefe Dankbarkeit und Freude, als Bauer Klaus nun mit den Eisbeuteln in den Händen  hinzukam, diese zur Erstversorgung liebevoll und vorsichtig auf den verletzten Fuß legte und dem Jungen zuflüsterte:

„Hey, mein kleiner Held, das wird schon wieder heilen. Ich hab dir beim Spielen zugesehen, du warst Spitzenklasse! Du bist sehr tapfer, das kann jedem, auch dem besten Fußballspieler der Welt einmal passieren. Halte durch, der Krankenwagen kommt schon. Ich höre das Signal. Hörst du es auch?“

Der kleine Fußballstar beruhigte sich ein wenig, seufzte stoßweise tief auf und war froh, in diesem Augenblick seine Mama und diesen erwachsenen Freund um sich zu haben.
Er hatte den Bauern immer schon gemocht und irgendwie das Gefühl gehabt, er sei für ihn ein besonderes Kind gewesen.
Ihm steckte er stets  die größten und saftigsten Äpfel zu, und gab ihm gelegentlich für seine Mama eine Tüte voll mit nach Hause.
Meist kochte sie davon köstliches Apfelmus, von dem sie  Mathse eine Kostprobe für den Bauern  mit zur Wiese gab und ihm auftrug, sich anständig bei ihm zu bedanken.
Bauer Klaus wiederum ließ durch Mathse jedesmal an seine Mutter schöne Grüsse und weitere, herzliche Danke und Lobesworte für das wohlschmeckende Apfelmus ausrichten, nicht ohne ihm am Ende noch frisches Gemüse oder andere Produkte aus seinem Garten zu holen, die er, Mathse, nun wieder an Mama weitergeben sollte. So ging’s mit Schenken und Bedanken seit längerer Zeit hin und her.

Die Erwachsenen sind doch eigenartig, hatte er oft gedacht: „Wieso muss ich die Dankes- und Lobessprüche hin und her tragen, Gemüse und Gekochtes austauschen?
Warum loben die sich nicht selber gegenseitig und sprechen miteinander oder laden sich zum Essen ein? Dann bräuchte ich nicht andauernd Töpfe, Schüsseln und säckeweise Nahrungsmittel rumschleppen.“

Nun wurde der angehende Fußballstar ins Krankenhaus gefahren und sein Ball blieb in der Abenddämmerung auf der feuchten Wiese liegen, weil alle in der Aufregung um Mathse das Rundleder einfach vergessen hatten.
 
Doch dort,auf der Wiese, bewegte sich etwas im Gras.

Langsam kam mit einer Taschenlampe, angestrengt  suchend , den Rücken gekrümmt, der Pferdebauer durchs Gras geschlurft, hielt plötzlich inne und rief erleichtert aus:
„Hab ich dich endlich gefunden!“
Und mehr zu sich selbst sagte er: „ Mathse wird sich sicher riesig freuen, wenn ich seinen Ball morgen zu ihm mit ins Krankenhaus bringen werde. Das Auto seiner Mutter steht in der Werkstatt, weil es streikt, und sie hat mein Angebot, sie morgen zu Mathse zu fahren, freundlich, dankend angenommen.
Ich werde ihn säubern und aufpumpen, damit der Junge sich anstrengt schnell gesund zu werden um damit ganz bald wieder über meine Weide toben zu können.

Ich werde allen meinen Mut zusammen nehmen und….Vielleicht….aber nur vielleicht, traue ich mich nun endlich, ihr zu sagen, wie hübsch und freundlich ich sie finde und dass ich Mathse, diesen liebenswerten, offenen Bengel, schon jetzt sehr in mein Herz geschlossen habe.

 

 

 

 

 

Ein Eimer voller Steine

Der Weg, der uns hinaufführt, auf den Berg, den ich Leben nenne, ist übersät mit einer unendlichen Vielfalt an Steinen.
Große Steine, kleine Steine in allen nur erdenklichen Farben schimmernd und bizarren Formen erscheinend. Raue und glatte. Schwerere und leichtere.
Jeder Stein ist einzigartig, so wie auch Du und ich einzigartig sind.

Sie liegen auf dem Boden, im Staub und Sand, im Schlamm und auch verborgen unter Kissen aus weichem, duftendem, grünen Moos, ebenso wie sie oft aufeinander getürmt, wie von Menschenhand hin gebaut, zu unseren Füssen auftauchen.
Manchmal stehen wir vor einem großen Felsen.
Davon können wir kleine Splitter abschlagen und sie mitnehmen, aber auch verletzen können wir uns daran, doch es steht uns frei, ihn zu überwinden oder zu umrunden, ganz wie wir wollen.
Oft, ohne uns dessen bewusst zu sein, sammeln wir ein Leben lang, bis unsere Eimer gefüllt sind.
 

So wanderte auch ich lange dahin, mit meinem Eimer, den ich voll machen wollte.
Ich bückte mich schnell um jeden vor mir auftauchenden, schmutzigen Stein, der mir ins Auge sprang, hob ihn einfach auf, um ihn in meinen Eimer plumpsen zu lassen.
Ohne sie genauer zu betrachten, abzutasten, zu erfühlen, ihr Gewicht abzuwägen und ohne ihre wirkliche Farbe, Form und Oberfläche unter der dicken Schmutzkruste je zu erahnen, versuchte ich meinen Eimer möglichst schnell bis an den Rand mit Steinen zu füllen.
Ich hatte nicht die Absicht, mich groß dabei anzustrengen um  möglichst schnell, hoch nach oben, dem Gipfel entgegen, voran zu kommen.
Wie oft schon war ich gestolpert, hatte mir auf der Suche die Knie wund geschlagen, die Knöchel verrenkt, hatte gedürstet und gehungert und noch nichts, aber auch gar nichts verstanden.
Ich war ahnungslos losgezogen, ohne Plan, ohne Ziel …. nur voll sollte der Eimer bald werden, damit ich endlich stehen bleiben durfte um nicht mehr weiter wandern zu müssen.
So war mein Eimer bald randvoll gefüllt gewesen.
Gierig hatte ich alles scheinbar steinige eingesammelt, und nun saß ich da am Boden, auf einem Ruheflecken aus Gras, die Beine gekreuzt, nach Luft ringend, mit meinem schweren Eimer, den ich keinen Meter weiter hätte schleppen können und wollen.
Den Gipfel hätte ich vermutlich sowieso nie erreichet, unter der Last meiner Sammlung an erde verkrusteten Brocken.

Doch, was war das? …  Als ich meinen Blick nach oben richtete, strahlte die Sonne so freundlich, hell und warm bis zu mir herunter, und mitten in der vielfältigen, bizarren, bunten Landschaft, die sich bis nach oben hin erstreckte, sah ich es an vereinzelte Stellen aufblitzen, wie kleine Sternchen.
In allen nur erdenklichen Farben schimmerte es bei genauerem Hinsehen mancherorts und als ich so da saß und ruhte, erwachten meine Sinne zu neuem Leben.

Plötzlich nahm ich die naturreinen Düfte wahr, hörte die Vögel in den lieblichsten Tönen, Lieder singend, ihre Reviere abgrenzen, hörte von irgendwo her einen Bach plätschern, entdeckte hinter Büschen, Bäumen und Felsen die emsig beschäftigten Bewohner des Waldes, die eifrig Vorräte vergruben, Nester bauten, balzten, sich paarten und sich an ihrer eigenen Lebendigkeit erfreuten.

War das schon immer so gewesen? Wieso hatte ich zuvor nichts davon bemerkt?

Sollte ich nun bleiben, wo ich angelangt war? Der Eimer war voll, was wollte ich mehr?

Doch innen drin in mir verspürte ich Sehnsucht wachsen.

Mit dem Inhalt des Eimers, der zentnerschwer wog,  wäre ich wohl nie in der Lage gewesen, meinen Weg fort zu setzen.
Wer weiß, selbst wenn ich es versucht und auf meinem Weg wirklich wertvolle Diamanten gefunden hätte, ich hatte keinen Platz und keine Kraft mehr, um sie mit zu nehmen.
Doch mich von allen potentiellen Schätzen trennen, die sich vielleicht in meinem Eimer befinden könnten, wollte ich mich auch wieder nicht.

Ich ließ meine Gedanken vorüberziehen.
Auf meinem bisherigen Weg waren mir Menschen begegnet, die ebenso, wie ich jetzt, dasaßen und sich eingehend mit ihrem Sammelsurium beschäftigten.
Achtlos und ahnungslos war ich an ihnen vorbei gezogen, hatte nicht nachgefragt, was sie damit bezweckten. Es hatte mich einen Dreck interessiert.
Schließlich war alleine mein Eimer für mich wichtig gewesen.
Andere Menschen hatte ich beobachtet, die zu zweit oder zu mehreren den Weg wbtlang wanderten und lachend, fröhlich,frohen Mutes, Steine sammelten, sie untereinander vorzeigten, mit einander tauschten und gemeinsam oftmals Ruhepausen einlegten, um jeden einzelnen Stein genau zu untersuchen.
Jeder von ihnen hatte sein eigenes Eimerchen und trotzdem teilten sie ihre Funde gemeinsam unter einander auf.

Wieder andere hatte ich in der Gier um einen ganz besonderen Stein streitend und raufend angetroffen, wobei sie in der Hast und Unachtsamkeit ihre Eimer umschubsten, aus denen deshalb der Inhalt heraus geschleudert wurde und alle Brocken den Berg wieder hinab kullerten.

Manchmal hatte ich Menschen gesehen, wie sie unter der Last der Steine zusammen brachen und keinen Schritt mehr weiter kamen, weil ihre Eimer so schwer geworden waren, dass sie sie nicht einmal mehr hoch heben konnten. Sie schienen aufgegeben zu haben und verharrten resigniert, mit leerem Blick, an der Stelle, wo sie gestürzt waren.

Einige Male waren mir sogar schon Menschen entgegen getreten, die  mir scheinbar freundlich, unaufgefordert, einen Stein in die Hand drückten, den ich dann sofort, ohne ihn genauer zu untersuchen, in meinen Eimer steckte.
Ich hatte mich gefreut und gedacht: „Prima, bequem, ich brauchte mich dazu nicht einmal bücken!“

Nachdem diese Bilder all dieser Menschen, vor meinem inneren Auge vorbei gezogen waren, fiel mein Blick wieder auf meinen Eimer und dessen Inhalt.

Was mochte sich wohl wirklich darin befinden.

Diamanten, Edelsteine? Schmutz und Dreck?

Ich hatte aus lauter Gier, in der Absicht, ohne den geringsten Aufwand meinen Eimer zu füllen, lieblos und unaufmerksam einfach alle Brocken aufgehoben und mit genommen, im Glauben und der Hoffnung, darunter wären sicher doch auch Steine dabei, die großen Wert haben könnten.
Ich musste mir zu meiner Schande eingestehen, dass ich noch kein großes Stück meines Weges nach oben, dem Gipfel entgegen, zurückgelegt hatte.

Nun begann ich, jeden einzelnen Stein in die Hand zu nehmen, zu drehen, von allen Seiten zu betrachten und betasten, kratzte und klopfte an ihrer Oberfläche mit den Fingern, schlug sie aneinander und die Dreckschichten bröselten und platzten ab.

Es war ernüchternd und erschreckend.

Viele Brocken zerfielen in meinen Händen dabei zu Staub, denn es waren keine verkrusteten Steine, wie ich gedacht hatte, sondern pure Erdklumpen gewesen, die ich im Irrglauben, es seien Edelsteine, an mich genommen hatte.

Doch nachdem ich einmal angefangen hatte, jeden einzelnen Klumpen zu erfühlen, zu beschauen, mit all meinen Sinnen wahr zu nehmen, entdeckte ich unter der Fülle wertloser Gesteins- und Erdbrocken auch vereinzelte, klitzekleine Kieselsteinchen, die ich wunderhübsch fand, die mir so gut gefielen, dass ich es nicht fertig brachte, sie, obwohl sie keinen wirklichen Wert besaßen, wie Diamanten und Edelsteine, achtlos auf den Erdboden zurück zu legen.

Für mich gewannen sie einen eigenen Wert und in meinen Augen wurden sie wunderschön und sie sind es heute noch.

Auch ein paar wirklich wertvolle Gesteinsarten befanden sich bereits in meinem Eimer, wie ich beglückt feststellen konnte.

Während ich meine Sammlung bereinigt, neu sortiert, nun in meinem Eimer den Boden bedeckend, anschaute, spürte ich wieder die Sehnsucht in mir, lauschte erneut dem Wind und all den Geräuschen der Lebendigkeit in der Natur, ließ noch einmal meinen Blick über die wundervolle Landschaft streifen, roch den süßlichen Geruch der Honigwaben in den Bäumen, die die Wildbienen gefüllt hatten,  die duftenden Blumen , die ihnen dafür ihren Nektar spendeten und Alles um mich herum durchdrang und füllte mich mit Zuversicht, Neugierde und Energie.

Ich entschied: Ich werde meinen Weg fortsetzen, meine Augen öffnen, mit meinen Ohren lauschen, mit all meinen Sinnen achtsam einen Schritt nach dem Anderen weitergehen.
Ich werde genau auswählen, was ich mit mir nehmen will.
Ich danke allen Menschen, die mir bisher begegnet
sind, dafür, dass es sie gibt und auch denen, die mir noch über den Weg laufen und vielleicht ein Stück meines Weges mit mir gemeinsam beschreiten werden.

Ich weiß nicht, wie weit oben ich je ankommen werde. Doch Eines weiß ich genau:

Jeder Schritt auf meinem gewählten Weg und jeder Stein, den ich darauf finden werde, wird für mich wertvoll sein, weil ich ihn in aller Offenheit meiner Sinne betrachten und ebenso bewusst entscheiden werde, in welche Richtung ich gehen will und was ich auf meinem Weg brauchen kann.

Vielleicht werden wir uns dabei begegnen, Du und Ich, oder sind wir das schon?.

 

 

 

 

 

Felix

Felix war ein liebenswerter Lausebengel. Schon ein einziger Blick in seine funkelnden, strahlendblauen Augen ließ erahnen, dass er es faustdick hinter den Ohren hatte.
Verzog er dazu seinen Mund zu dem verschmitzten Grinsen, das zur Zeit auch noch nach dem Sturz mit dem Skateboard eine prächtige Zahnlücke oben rechts, an der Stelle, an der eigentlich ein Schneidezahn sitzen sollte, entblößte, dann war man seinem nun schon jugendlich angehauchten, frechen Scharm erlegen.
Seine kupferroten, lockigen Haare, die die Großmutter mit der elektrischen Haarschneidemaschine möglichst nie länger als 4 Zentimeter wachsen ließ, hatten ihm als Kleinkind den Spitznamen „Kupferlämmchen“ eingebracht.
Die Sommersprossen auf seiner Nase vollendeten den Eindruck, man habe hier einen wahrhaftigen Kobold vor sich.
Er war schon immer ein selbständiges Bürschlein gewesen.

Seit er die zweite Klasse besuchte, ging er alleine zur Schule, die praktischer Weise nur zwei Straßen weiter um die Ecke stand.
Er konnte zu Fuß dorthin gelangen und brauchte keine Zeit für einen langen Schulweg, womöglich in öffentlichen, langweiligen Verkehrsmitteln, verschwenden.
Mittags kehrte er allein in das große Einfamilienhaus zurück, wo er sich in der Mikrowelle das von Oma vorbereitete Essen aufwärmte, die während der Mittagszeit ehrenamtlich in der Suppenküche für Obdachlose das Essen zu verteilen half und sehr stolz war auf ihre Soziale Ader, die sie auf diese Weise Anerkennung bringend nach Außen hin demonstrieren konnte.

Nach dem Essen fing er an, seine Hausaufgaben zu erledigen.
Das allerdings war nicht gerade eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, zumal er in der 6.Klasse, in die er nun ging, einige neue, sehr interessante Freunde kennen gelernt hatte und sich viel lieber mit ihnen beschäftigte als mit den Schulbüchern- und Heften.
Zweimal wöchentlich war Nachmittagsunterricht angesagt, den er nur widerwillig besuchte.
Wer sitzt schon im Sommer bei strahlendem Sonnenschein gerne im Klassenzimmer, lernt chemische Formeln und lässt sich vom Lehrer andauernd anmotzen, er solle sich gefälligst auf den Unterricht konzentrieren anstatt seine Hefte und Bücher mit sinnlosen Karikaturen voll zu kritzeln.
Viel angenehmer wäre es, anstatt dessen im Freibad von den 10 Metertürmen zu springen.
Bald würde er seinen 12. Geburtstag feiern können und Mama hatte ihm in einem Brief ganz feste versprochen, sie würde an diesem, seinem besonderen Tag schon früh morgens zu ihm kommen und bis spät abends bei ihm bleiben.
Darauf freute er sich mehr als man sich auf alle Geschenke der Welt hätte freuen können.
Er vermisste sie so sehr, sah sie viel zu selten und träumte davon, mit ihr und Oma zusammen, und vielleicht einem Papa, den man aber zuvor noch suchen  und finden musste, in einem schönen  Haus mit Garten außerhalb der Stadt zu wohnen.
Stattdessen verbrachte er, seit er denken konnte sein Leben hier in diesen ordentlichen, stets penibel sauber aufgeräumten Zimmern, die wenig Lebendigkeit ausstrahlten, mit seiner Oma, die sich fürsorglich, inzwischen für seine Begriffe zu fürsorglich, um ihn kümmerte und die ihn während der Abwesenheit seiner reisenden Mutter, aufopferungsvoll großzog.

Mama verdiente ihr Geld mit Herumreisen in der Welt, wobei sie ihre Rolle der Kommunikationsvermittlerin zwischen unterschiedlich sprachigen Menschen leidenschaftlich gerne spielte und das Reisen in ferne Länder in vollen Zügen genoss.
Sie war Dolmetscherin und angestellt in einer internationalen Baufirma, die Aufträge aus aller Welt übertragen bekam.
Kommunikation war ein für sie immens wichtiger Aspekt in ihrem bisherigen Leben.
Immer schon, von klein auf, war sie um Verständnis bemüht gewesen.
Sie war wohlbehütet mit ihren Eltern aufgewachsen und nach Außen hin hatte es an Wohlstand, Wunscherfüllungen und Fürsorge nicht gemangelt, zumal sie, fast wie in einem goldenen Käfig, zu einer Frau heranreifen konnte, der alle erdenklichen Möglichkeiten, um es eines Tages im Leben zu etwas zu bringen, stets regelrecht zu Füßen geworfen worden waren.
Immer in saubere, qualitativ hochwertige, nicht billige Bekleidung gehüllt, ausgestattet mit auffälligen, eigentlich unwichtigen und doch manch neidische Blicke auf sich ziehenden Accessoires, so lief sie einen Tag um den anderen, zielstrebig und unaufhaltsam ihrem beruflichen Erfolg entgegen.
Sie war zweisprachig, Italienisch und Hebräisch aufgewachsen, hatte mit ihren Eltern viele Jahre in Deutschland gelebt und sich auch diese Sprache fehlerfrei angeeignet und später, da die verschiedenen Sprachen wie von selbst in sie hinein zu fließen schienen, ohne besonders viel dafür lernen zu müssen, Skandinavisch, Russisch und sogar Chinesisch studiert.
Auch Französisch sprach sie sehr gewandt und sie wurde nie müde, sich weitere Sprachkenntnisse anzueignen.
Doch all diese verschiedenen Sprachen zu beherrschen, beseitigte in ihr nicht das Gefühl von etwas Undefinierbarem, was ihr zu fehlen schien.
Es war ihr gar nicht bewusst, dass sie ein Defizit in sich spürte, sondern sie bewertete dies einfach als angeborene Unausgeglichenheit, als Wesenszug, den sie unabänderlich akzeptierte, auch wenn es ihr dadurch oft nicht besonders gut ging und es sie manchmal in tiefe Traurigkeit zu stürzen drohte.
Doch es war ein Leichtes für sie, sich mit Hilfe der vielfältigen Eindrücke auf ihren Weltreisen, davon ab zu lenken.
In manchen Momenten dieser Traurigkeit vermisste sie ihren Sohn, doch weil sie ihn wunderbar versorgt wusste, so wie sie letztendlich auch versorgt worden war, ließ sie sich nie näher in diese Gedanken fallen, da sie mehr als einmal gespürt hatte, dass ihr das noch viel unangenehmere Gefühle bereitet hätte.
Außerdem musste jemand für sie, ihren Sohn und ihre Mutter, nach dem Tod ihres Vaters, das Geld verdienen, damit sie sich den gewohnten Lebensstandard weiterhin leisten konnten.
Kurz vor Vaters Tod war dessen Firma pleite gegangen und es hatte Jahre gedauert, bis sie mit ihrer Mutter sich finanziell wieder den Boden unter den Füssen erarbeitet hatten.

Dann hatte sich auch noch Felix` Vater, ein Missgriff  an Kindserzeuger, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte, sang und klanglos aus dem Staub gemacht, als ihr Sohn drei Jahre alt geworden war.
Heute konnte sie sich nicht mehr erklären, was sie an diesem Versager, von dem sie sich hatte schwängern lassen, damals gefunden hatte.
Doch damals, mit 20 Jahren, war sie in ihn so verliebt gewesen, wie ein kleines, pubertierendes Mädchen in seinen ersten Schwarm.
Schmetterlinge im Bauch, Herzflattern und ein erwartungsvolles Gefühl, hatten sich, bei jedem Gedanken an ihn und  noch intensiver bei jeder seiner Berührungen, durch jedes seiner, an sie gerichteten Worte, in ihr damals ausgebreitet.
Doch, so schnell, wie sie entflammt war, zerbröckelte diese stürmische Leidenschaft füreinander wieder und verwandelte sich in Streit und Zank über unwesentliche Dinge im Leben, in gegenseitige Vorwürfe wegen Ignoranz und Gefühllosigkeit.
Sie, Katharina, brauchte zum Glücklich sein mehr als zärtliches Händchen halten, Streicheleinheiten und, in ihren Augen damals unsinniges, sentimentales Gelaber, über  das Leben.
Sie wollte Erleben, in vollen Zügen und dies auch ihrem Kinde bieten können.
Doch Hannes wäre nie im Leben in der Lage gewesen, ihr diese Wünsche zu
finanzieren, als einfacher Heilerziehungspfleger in einem Heim für geistig behinderte Kinder.
Seine Arbeit stieß sie mit der Zeit regelrecht ab. Sie konnte mit seinen Schützlingen nichts anfangen, empfand Ekel, wenn sie ihnen beim Sabbern zusah, beim Stottern zuhörte und bestenfalls empfand sie Mitleid, was sie ihnen gegenüber noch hilfloser gemacht hatte.
Sie waren so unperfekt, passten einfach nicht in ihr glänzendes, scheinbar harmonisches, reiches Weltbild und ihren Traum vom Leben, hinein.

Das letzte Mal, als sie Hannes gesehen hatte, stand er nach einer, wieder einmal sehr heftigen Auseinandersetzung, bei der die Fetzen geflogen waren, plötzlich schweigend, mit Tränen in den Augen vor ihr, schaute sie ein letztes Mal sehnsüchtig an, streichelte seinem Sohn ein letztes Mal über den Kopf und verschwand.
Am nächsten Tag hatte die Polizei bei ihr geklingelt und ihr mitgeteilt, Hannes sei tot, er habe sich erschossen.
Nach kurzer und nicht all zu intensiver Trauer, war sie sehr froh gewesen, dass sie sich nie zur Hochzeit hatte überreden lassen.

Von da an hatte sie ihr Leben wieder alleine in ihre eigenen Hände genommen und es sich auch nie mehr entreißen lassen.
Sie war erfolgreich, angesehen, gut bezahlt, liebte ihren Job, war finanziell durch diesen sehr gut gestellt und auch ihrer Mutter und ihrem Sohn fehlte es an Nichts … dachte sie.
 

Felix, was soviel heißt, wie „der Glückliche“, saß gerade missmutig über seine Mathematikaufgaben gebeugt, die einfach ganz und gar nicht in seinen Kopf hinein gehen wollten.
Er hatte die Nase gestrichen voll von X und Y, die Platzhalter für irgendetwas in den Aufgaben waren, die er mit Hilfe von leider nicht erlernten, nie kapierten  Formeln, berechnen hätte sollen.
Das Läuten des Telefons kam ihm wie gerufen, weil er sich deshalb aus sinnvollem Grund damit von der blöden Mathematik abwenden konnte.

„Hallo, hier Felix Grünberg“, sprach er gutgelaunt in den Telefonhörer.
„Hallo Felix, mein Liebling, wie geht es Dir?“ hörte er seine Mutter mit spürbarer Zurückhaltung in ihrer Stimme, fragen.
Augenblicklich war Felix` gute Laune beim Teufel.
Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog und ein beklemmendes Gefühl über seinen Rücken hochkrabbelte, bis hinein in seine Kehle, die sich daraufhin anfühlte, als schnüre sie jemand mit aller Kraft zusammen.
Er kannte diesen Ausdruck in der Stimme seiner Mutter nur all zu gut.
So hörte sie sich jedesmal an, wenn sie aus beruflichen Gründen ihre Besuche bei ihm zu Hause absagen musste.
Übermorgen war sein Geburtstag.
„Gut geht´s mir, Mama, wie denn sonst?“ erwiderte er mit belegter Stimme heiser, mit einem kaum  überhörbaren, sarkastischen Unterton, weil er schon ahnte, was nun kommen würde.
„Ach, mein Schatz, es tut mir wirklich so furchtbar leid! Ich weiß gar nicht, wie ich es Dir erklären soll, ich weiß, du wirst sehr enttäuscht sein, aber …….“ Felix` Hand, in der er den Hörer gehalten hatte, war kraftlos auf seinen Schoß gesunken, so dass er nur noch leise, wie durch einen Schleier die weiteren Worte seiner Mutter vernahm. „…ich kann übermorgen unmöglich bei Euch sein. Wir hatten mit einem Auftraggeber Probleme und das hat uns wertvolle Zeit gekostet, die wir unbedingt nun herein arbeiten müssen. Ich kann frühestens anfangs übernächste Woche kommen, weil wir von hier gleich weiter nach Island fliegen müssen, um den nächsten Auftrag in Angriff zu nehmen.   ……Felix??? Bist du noch dran?“ rief Katharina etwas lauter ins Telefon, als sie bemerkt hatte, dass am anderen Ende der Leitung niemand mehr hörbar hinein atmete.

Felix hob den Hörer wieder hoch an sein Ohr, was ihm so anstrengend vorkam, als wiege dieser Zentnerschwer. „ Ja Mama, bin noch dran.“

Er hörte seine Mutter um Verständnis bitten, für ihre Situation, und dass er doch alt und vernünftig genug sein würde, mit nun 12 Jahren, dass er doch inzwischen einsehen könne, wie wichtig ihr Job und das Geld für sie drei wären und sie ihm eine ganz tolle, teure Überraschung mitbringen werde, wenn sie übernächste Woche dann nach Hause käme.
Mehr als ein gespielt vernünftig klingendes „ Ja, Mama, versteh `ich, ist doch klar, ich kann warten,  mach` s  gut und viel Erfolg! Ich freu mich auf übernächste Woche, bis dann!“ brachte er nicht mehr heraus.
Seine Mutter bedankte sich für sein Verständnis, lobte ihn für seine vernünftige Einsicht und wünschte ihm eine schöne Zeit. Sie werde ihn am Geburtstag aber sicher noch einmal anrufen, um ihm zu gratulieren.

Als er den Hörer aufgelegt hatte, brach es mit voller Wucht aus ihm heraus.
Die Tränen rannen dem ehemaligen Kupferlämmchen, aus dem nun schon ein fast zwölfjähriger,  scheinbar sehr vernünftiger Halbwüchsiger geworden war, in Strömen  die Wangen hinab.
Er schluchzte wie ein kleines Kind, konnte nur mehr stoßweise nach Luft ringen und alles in ihm hatte sich zusammen gezogen und verkrampft.
Langsam beruhigte er sich wieder, seufzte noch einige Zeit danach traurig auf und ging wieder ans Telefon.

Diesmal hatte es nicht geklingelt, sondern er wählte die Nummer eines seiner neuen, interessanten Freunde, die zum Teil schon zwischen dreizehn und fünfzehn Jahre alt waren.
„ Ja, wer da?“ ertönte Jens Stimme am anderen Ende der Leitung.
„ Ich bin ´s, Felix, hast du gerade Zeit?“ fragte er, sehr darum bemüht, möglichst „cool“ zu klingen.
„Jo, für dich doch immer, Felix, was geht?“  ertönte es, noch um vieles „cooler“, aus dem Hörer.
Felix antwortete, so ober cool wie noch nie zuvor: „ Ich hab` grade null Bock auf Mathe, blick das einfach nicht, hast Lust auf Treffen am See?“
„Jo, iss gebongt, Kleiner. Um Drei hinterm Bootshaus, unter der Trauerweide, wo uns niemand sehen kann. Ich nehm `was mit, was uns Beiden heute so richtig gut tun wird. Hab grade riesen Zoff mit meinem Alten gehabt, der mal wieder seit gestern durch gesoffen hatte. Muss sowieso raus, sonst krepier ich hier noch!“
„Scheinbar hat Jens gespürt, dass es mir nicht so gut geht“ dachte Felix erstaunt mit einem verwunderlichen Gefühl der Vertrautheit seinem neuen Freund gegenüber.

Jens war einige Wochen zuvor neu in seine Klasse gekommen. Er war zwei Jahre älter als Felix und drehte gerade seine zweite „Ehrenrunde“ auf der Schule.
Aus der vorherigen Schule war er geschmissen worden und nun sollte er eigentlich die Chance nutzen, sich auf der neuen Schule anzupassen und ein zu gliedern.  Doch das schien ihm nicht zu gelingen.
War ihm auch relativ schnuppe, denn um den Stress, den ihm die Erwachsenen deshalb machten, aushalten zu können, hatte er inzwischen eine gute Lösung für sich gefunden.
Felix wusste, dass Jens regelmäßig kiffte und auch ab und an andere Substanzen benutzte, um sich wieder wohl und „high“ zu fühlen.
Jens hatte ihm schon mehrmals etwas davon angeboten, aber er, Felix, hatte sich bis dahin noch nicht reif genug gefühlt.

Doch nun, mit gleich 12 Jahren, nach diesem Telefongespräch mit seiner weit entfernten Mutter, fühlte er sich reif.
Überreif .
Er verspürte Sehnsucht, nach dem Gefühl, das Jens ihm prophezeit hatte, wenn er sich trauen würde, mit ihm die Bong zu rauchen, sich durch das blubbernde Wasser das Haschisch tief in die Lungen zu ziehen.
Oft wiederholte Jens das drei bis viermal hintereinander, zündete sich einen Topf nach dem anderen an, damit es so richtig intensiv „schob“, wie er das nannte. Danach benahm er sich jedesmal so lustig und „cool“, so unbeschwert und zufrieden, so, genau so, wollte sich Felix heute auch fühlen.

Pünktlich um Drei trafen Beide gleichzeitig am vereinbarten Treffpunkt ein und Jens bereitete die Bong für sie Beide bedächtig, wie in einem liebevollen Ritual, vor.
Dann war es soweit.
Felix nahm mit zitternden Händen, aufgeregt wie ein 4 jähriger, der vor dem Nikolaus ein Gedicht aufsagen muss, die aus einer Plastiktrinkflasche selbst gebastelte Wasserpfeife entgegen und zog an der Trinköffnung tief die Luft durch das Wasser in der Flasche, wobei die Haschischmischung im „Topf“ nur so glühte und ein paar Funken spritzten.
Abwechseln rauchten sie so einige Töpfe hintereinander.
„Nun hab ich´s getan“, dachte Jens und er begann sich schwindelig, eigenartig leicht und sonderbar zu fühlen.
Angenehm zuerst, jedoch verwandelte sich das Wohlgefühl zu schweben, schnell in ein anderes, nämlich in hilflose Übelkeit.
Felix musste sich mehrmals übergeben.
Jens half ihm dabei, hielt ihn liebevoll an den Schultern fest und sprach ihm gut zu: „ Mach dir nix draus, Kleiner, das kann mal passieren, ging uns allen schon mal so, das vergeht wieder. Die Mischung war wohl zu stark für dich. Bekommst nächstes mal eine Sondermischung von mir, dann wird’s nur Klasse sein und du bist dann so richtig angenehm breit.“
Felix war unheimlich froh, dass sich Jens so verständnisvoll um ihn kümmerte, ihn weder auslachte, noch fallen ließ.

Nach zwei Stunden war das Gröbste vorüber und Felix machte sich, immer noch leicht schwebend, auf ,in Richtung nach Hause. Jens wohnte in der entgegengesetzten Richtung.
In Gedanken versunken überquerte Felix die Hauptverkehrsstraße.
Er dachte: „Jo, da komm ich noch rüber“, als er schon mitten auf der Straße stand und der mit überhöhter Geschwindigkeit heranbrausende VW-Golf mit quietschenden Bremsen aus zu weichen versuchte.
Felix wurde trotzdem seitlich erfasst und durch die Luft geschleudert, überschlug sich mehrmals, bis er im Seitenstreifen zu liegen kam.
Vom Rettungswagen, den ein Unfallzeuge sofort alarmiert hatte, bekam er nichts mehr mit. Auch nicht von den Widerbelebungsversuchen, die erfolgreich verliefen.
Er erwachte drei Tage nach seinem 12 Geburtstag aus dem künstlichen Koma, in das man ihn wegen seiner schweren, inneren Verletzungen, versetzt hatte.
Das Erste, was er sah, war seine Mutter, die seine Hand streichelte, konnte aber gedanklich nicht einordnen, was geschehen war und wo er sich befand.

Nachdem der Polizist Katharinas Mutter mitgeteilt hatte, dass Felix angefahren worden war  und im Krankenhaus lag, wo die Ärzte um sein Überleben kämpften, rief sie sofort ihre Tochter in Australien an und versuchte es ihr so schonend wie es nur ging, bei zu bringen.
Katharina war verzweifelt, nahm sich sofort frei und fühlte eine Welt in sich unter gehen, als sie stundenlang Todesängste um ihren geliebten Jungen ausstehen musste, bis ihr Flugzeug gelandet war und sie im Taxi endlich das Krankenhaus erreichte.
Als ihr die Ärzte die Tatsache, dass ihr knapp Zwölf Jahre alter Sohn im Drogenrausch in ein Auto gelaufen war, unterbreitet hatten, schien eine weitere Welt in ihr zusammen zu brechen.

Die Welt, die sie in sich aufgebaut hatte.

Die Welt, die heile war, in der doch alles in Ordnung war, wie sie geglaubt hatte.

5 Tage und Nächte lang saß sie nun fast ununterbrochen am Bett ihres in Lebensgefahr schwebenden Sohnes, dessen lebendige Stimme sie zuletzt gehört hatte, als sie ihm den Geburtstagsbesuch aus beruflichen Gründen absagen musste.
5 Tage und Nächte lang hatte sie abwechselnd geweint, gehofft, gebangt, gebetet und nachgedacht.
Und nun fing sie an einiges zu verstehen.
Sie erinnerte sich an den Vater von Felix und an viele Gespräche, die sie mit ihm geführt hatte. Sie begann zu begreifen, wovon Hannes damals gesprochen hatte.
Von Liebe, Mitgefühl, Gemeinsamkeit, Vertrautheit, von menschlichen Werten, von Erlebnissen in der Natur, von dem Gefühl nicht verstanden zu werden und von seiner Traurigkeit, die er, mit ihr an seiner Seite, empfunden hatte, weil für sie immer nur Erfolg und Prestige, käufliche Werte und Luxus wichtig gewesen waren.
Nun begannen sich die Schleier in Katharina auf zu lösen, wie dicke Nebelschwaden, die von wärmenden Sonnenstrahlen vertrieben werden.
Sie begann zu begreifen, dass auch ihre eigene Traurigkeit, auf die sie sich niemals einlassen hatte wollen, und die sie mit ständiger Flucht in die Arbeit ihr Leben lang versucht hatte zu bekämpfen, aus solch ähnlichem Unverständnis erwachsen war.
Was hätte sie nicht alles drum gegeben, viele ihrer Entscheidungen rückgängig machen zu können.
Der Psychologe, den sie in ihrer Verzweiflung nach ihrer Ankunft im Krankenhaus um Hilfe gebeten hatte, war sehr gut in dem, was er tat.
Er hatte zu aller erst geduldig zugehört, ihr dann vieles über Drogen erzählt, über die möglichen Ursachen des Drogenkonsums ihres Sohnes und sie hatte sein Angebot  zur Therapie für sie selbst und ihren Sohn bereitwillig angenommen.

Nun verstand sie. Nicht in einer fremdländischen Sprache, sondern mit ihrem Herzen.

Felix blickte stumm in ihre Augen, noch nicht fähig, einen Ton über seine Lippen zu bringen.
Doch er konnte lesen, nicht in Buchstaben und Zahlen, sondern in den Augen seiner Mutter, durch die ihr Herz zu ihm sprach, und er wusste: Nun wird alles gut.

 

 

 

 

 

Lothars erster Auftrag

Viel länger und lauter als es sonst üblich war, schüttelte Oskar schwungvoll die messingfarbene Glocke. Jeder einzelne, der das Gebimmel gehört hatte - sie war sehr weit und überaus deutlich zu hören - ließ sofort alles liegen und stehen, und eilte so schnell wie möglich, hinüber zum Sitzungsort.
Da saß er, groß und mächtig, in seiner leuchtenden, lila Tunika, über deren Vorderseite der graue, gekräuselte Bart, bis fast in seinen Schoß hinein, hing.
Von überall her kamen seine Schützlinge angewuselt, und während sich jeder von ihnen ein Plätzchen suchte, mischten sich leise flüsternde Stimmen mit etwas lauterem Geplappere.
Fast hörten sie sich an, wie Kindergartenkinder, die das Fräulein zum Stuhlkreis gerufen hatte.

„Meine Lieben, bitte setzt euch alle hin und seid leise, damit mich jeder hören und verstehen kann!
Ich möchte anfangen“ ertönte seine tiefe, gütige, aber auch Respekt einflößende Stimme.
Das hatte gewirkt.
Augenblicklich ließen sie sich nieder, genau da wo sie sich gerade befunden hatten, und klappten brav ihre Flügelchen auf den Rücken, damit sie ihrem Hinter-Engel nicht die Sicht versperrten.
Oberengel Oskar, betrachtete nun stolz, mit sehr viel Liebe im Blick, seine Jung-Engelschar, die ihn wiederum ehrfürchtig und erwartungsvoll von oben bis unten musterte.

„Holterdipolter“...purzelte der kleine Lothar von einem Wolkenbausch, der ihm, wie allen anderen, als Sitzkissen diente, herunter, und landete direkt vor Oskars großer Sitzwolke, die ähnlich einem Thron aussah.
Die Augen amüsiert, zugleich gespielt ärgerlich verdreht, stand der Groß-Engel auf, legte dem kleinen, vorwitzigen Jung-Engel die großen Hände hilfreich unter die Achseln, und hob ihn zurück auf die weiche Sitzwolke.
„Lothar, jetzt halt dich mal still und sperr den Mund zu, aber die Ohren ganz weit auf!“ ermahnte er den jüngsten, erst vor kurzem neu hinzugekommenen Engel. Der ließ die Flügel hängen, weil er sich ein wenig schämte, senkte das Kinn auf die Brust und guckte schuldbewußt von unten zu seinem Oberlehrer-Engel hoch, welcher ihm aufmunternd und versöhnlich zunickte.

„Meine liebe Engelschar“ füllte die angenehm tiefe, vibrierende Stimme, den großen, aus verschiedensten Wolkenarten bestehenden Raum, in dem sich nun mindestens 150 kleine, leuchtende Wesen mit Flügeln und pastellfarbenen Umhängen, auf den Ältesten-Engel konzentrierten.
„ Ich weiß, ihr seid alle noch ein wenig neu hier und mit den Aufgaben, die ihr als Engel erfüllen dürft, noch nicht so sehr vertraut. Aber die Situation erfordert es, dass ihr jetzt schon gebraucht werdet, für den Einsatz auf der Erde!
Dort wird es in den Herzen der Menschen immer kälter und einsamer und wir müssen etwas unternehmen.
Außer uns Engeln kann da niemand helfen, denn nur wir sind in der Lage, ihre Gedanken in den Köpfen und ihre Gefühle in den Herzen, zu lesen. Sie sehen uns nicht, wenn wir bei ihnen sind, um ihnen beizustehen, aber manche von ihnen erreichen wir so, dass sie uns spüren können.“
Er schob den Kippschalter nach vorne, der sich auf der rechten Seite seiner Wolke, an der Stelle, die ihm als Armlehne diente, befand. Die riesengroße, reinweiße Schäfchenwolke hinter seinem Rücken, schwebte ganz weit nach oben und gab den Blick auf eine Art durchsichtige Leinwand frei.
Dort tauchten Bilder auf.
Bilder von Menschen, in deren Blick man erkennen konnte, dass sie nicht sehr glücklich waren.
Ein kleiner, 7 Jahre alter Junge, saß mit trotzigem Gesichtsausdruck neben seiner Mutter auf einer Bank im Café und zappelte heftig mit den Füßen. Dabei schubste er den Stuhl, der vor ihm stand immer ein kleines Stückchen weiter von sich weg. Mitten in den Weg hinein, auf dem sich gerade eine Bedienung der älteren Frau am Nebentisch näherte, um ihr eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen zu servieren.
Doch, nicht nur die Bilder sahen die Engel. Sie lasen auch in dem Jungen, der Norbert hieß, dass er sich einsam fühlte, weil seine Eltern sich hatten scheiden lassen, Papa fortgezogen war und seine Mutter kaum Zeit für ihn aufbringen konnte. Sie musste serh viel arbeiten, um genügend Geld zu verdienen.
Er ging in die zweite Klasse und da der Kinderhort überfüllt war, musste er die Nachmittage ganz alleine verbringen.
In der älteren Frau, Agnes, konnten sie wahrnehmen, dass sich auch in ihr große Einsamkeit ausgebreitet hatte. Ihre drei, schon lange erwachsen gewordenen Kinder, lebten hunderte von Kilometern mit ihren Familien entfernt. Höchstens zweimal im Jahr, zum Geburtstag im Sommer, und zu Weihnachten, bekam sie Besuch und die Gelegenheit, ein klein wenig Zeit mit ihren Enkelkindern zu verbringen.
Diese vermisste sie sehr.
Agnes warf Norbert einen strengen Blick zu, damit er aufhören sollte, den Stuhl herumzuschieben, aber schon war es zu spät. Die Kellnerin stolperte, der Kaffee schwappte auf den Boden, und das Kuchenstück purzelte quer über den Tisch.

Ein ums andere Mal drehte Oskar ein kleines Rädchen an seinem Wolkensessel und weitere Szenen tauchten auf.
Bilder von armen Menschen, die arbeitslos waren und sich kaum Mahlzeiten zum Sattwerden leisten konnten, andere, von reichen Menschen in Managerpositionen, die nach neuen Ideen suchten. Wieder welche, von kranken Menschen in Krankenhäusern und Pflegeheimen, aber auch von Menschen, die zu Hause saßen, denen es eigentlich gut ging, aber die nicht so recht ausgefüllt waren, mit dem was sie taten, sondern ein Bedürfnis verspürten, etwas anderes, befriedigenderes zu machen.

„Seht ihr, Engelchen, was ich meine?“ richtete sich der gütige Ober-Engel nun an die komplette Jungengelschar, die gebannt und ergriffen auf die Leinwand geschaut und sich in die Menschen hineingefühlt hatte.
Eifrig nickten sie zustimmenden mit den Köpfen, flatterten aufgeregt mit den Flügeln und warteten gespannt darauf, was der „Chef“ ihnen nun auftragen würde.
„ Hier werdet ihr gebraucht, meine Lieben. Die älteren, erfahreneren Engel, müssen sich um noch viel schwierigere Probleme in der Welt kümmern, wie zB Hungersnöte, Opfer von Naturkatastrophen, Menschen, die schon zu weit in die Kriminalität und zu tief ins Unglück gestürzt sind.
Aber ihr Jungengel, ihr dürft nun für diese Menschen sorgen, die sich zwar schon unglücklich, einsam, überflüssig und arm fühlen, denen jedoch oft schon mit kleinen, scheinbar unbedeutenden Dingen, geholfen werden kann.
Diese Kleinigkeiten zu bewirken, das ist nun die Aufgabe für jeden Einzelnen von Euch.

Fangen wir mal mit dir an, Lothar. Ach ja, Berti. Ich denke, du bist als Partner für Lothar bei dieser Aufgabe sehr gut geeignet. Ihr Beide kümmert euch um Norbert und Agnes. Lasst euch mal etwas einfallen, wie ihr ihnen helfen könnt. Ab mit euch. Viel Spaß und Erfolg dabei!“ schickte er die zwei Lichtwesen, die genau zugehört und ihn dabei stolz und glücklich über das Vertrauen, das er ihnen schenkte, mit glänzenden Augen angehimmelt hatten.
Während Oskar an jeden Einzelnen nun die Aufgaben verteilte, gingen Lothar und Berti, frisch und frohen Mutes, mit der ganzen Kraft ihrer Seelen, ans Werk.
Gerade als die Angestellte des Lokals den Kaffee und den Kuchen weggeputzt hatte und wegtragen wollte, kamen die beiden unten an. Die Mutter von Norbert zog heftig an seinem Ohr und schimpfte ihn lautstark aus.

Lothar kitzelte sie mit der Spitze seines Flügels an der Nase, so dass sie heftig Niesen und Norbert losslassen musste. Dabei stieß sie nun an ihre eigene Kaffeetasse, die daraufhin fast vomTisch gefallen wäre. Berti flatterte zu Agnes, die die Szene beobachtete und dachte, „Ja , das geschieht dem Lausebengel ganz recht. So ein verzogener Fratz!“
Da spürte sie plötzlich einen kurzen Stich am linken Ohrläppchen, in das Berti ein klitzekleinwenig hinein zwickte. Nicht fest, nur um ihr die Empfindung ins Gedächtnis zu rufen, wie es sich angefühlt hatte, wenn ihre eigene Mutter sie früher schmerzhaft an den Ohren zog.
Agnes erinnerte sich plötzlich daran, wie es früher gewesen war.
Ihre Mutter, eine herzensgute Frau, doch in der damaligen Zeit, mit 7 Kindern, sehr eingespannt,
reagierte  manchmal heftig. Wegen der vielen Arbeit um das tägliche Brot zu verdienen, blieb keine Zeit und auch keine Nerven für die Kinder. Agnes war ein temperamentvolles Kind gewesen und  stellte viel Blödsinn an, weil sich selten jemand mit ihr beschäftigte.
Nun schaute sie zu Norbert und seiner Mutter hinüber und verspürte ein warmes Gefühl in ihrem Herzen. Mitgefühl für Norbert und seine Mama, die selbst Traurigkeit empfand, weil sie so reagiert hatte.
Sie wusste ja, dass ihr Sohn sich zur Zeit sehr unglücklich fühlte und er sich nicht in böser Absicht so verhielt. Ihr war es peinlich, dass Norbert der Kellnerin und der älteren Dame diese Unannehmlichkeiten bereitet hatte.
Agnes mitfühlender Blick traf den traurigen, entschuldigenden Blick Norberts' Mutter.
Lothar und Berti saßen unsichtbar auf Agnes’ Tisch, auf dem sich noch ein kleines Tröpchen frischer Sahne und ein Krümelchen des Kuchens befanden, die die Bedienung beim Säubern des Tisches übersehen hatte.
Sie schlugen aufgeregt, fröhlich, mit ihren kleinen Flügeln und Lothar flüsterte:
„ Juchuh, schau, Berti, sie haben uns gespürt! Jetzt reden sie schon mit ihren Augen und ihren Gefühlen miteinander. Gleich steht eine von ihnen auf und spricht die andere mit Worten an. Bestimmt, das spür ich, das wird gut!“
Berti, der gerade von der Sahne und dem Krümel genascht hatte, erwiderte:
„ Ja, und schau mal Norbert an! Wie lieb der jetzt mit dem schlechten Gewissen in seine Augen zu Agnes hinüberschaut und sich damit entschuldigt! .... Du, probier mal, Lothar, der Kuchen und die Sahne schmecken himmlisch!“

Norberts Mama erhob sich, ging auf Agnes zu, streckte ihr die Hand entgegen und entschuldigte sich:
„ Tut mir leid, was mein Sohn gerade angestellt hat! Natürlich zahl’ ich ihnen den Kuchen und den Kaffee und möchte sie einladen, auf ein neues Stück und eine neue Tasse.
Ich würde mich freuen, wenn sie sich zu uns setzen wollen.
Ich bin Sonja und das ist mein Sohn Norbert,“ legte sie ihre Hand auf Norberts Kopf, der auch aufgestanden und zu den beiden hinübergegangen war.
Artig streckte er Agnes die Hand entgegen und sagte:
„Entschuldigung, tut mir leid, das wollte ich wirklich nicht!“
„Ist schon gut. Ich weiß, du hast das sicher nicht absichtlich gemacht. Entschuldigung angenommen, kleiner Mann. Tust du mir bitte einen Gefallen? Reich’ mir meinen Gehstock rüber, der hängt dort am Stuhl. Den brauch’ ich, damit ich an euren Tisch kommen kann. Ohne den bin ich etwas wackelig auf den Beinen.“
Norbert gab ihn der älteren, freundlichen Frau in die rechte Hand, nahm ihre Linke und führte sie, wie ein Kavalier, an den Nebentisch.
„Danke, das hast du prima gemacht!“ lächelte sie ihm zu, während sie sich niedersetzte.
„Na, dein Ohr leuchtet ja ganz schön. Meiner Mutter ist das auch manchmal passiert, dass sie mich an den Ohren gezogen hat. Aber die meinte das nie böse. Kam oft vor, dass ich als kleines Mädchen Unsinn machte und sie darüber so erschrocken reagierte.“ erklärte sie ihm und streichelte sanft sein rotes Ohr.
„ Ja, es tut mir auch leid, aber manchmal wird mir einfach alles zu viel. So viel Arbeit, das Geld reicht nur gerade so, für das Nötigste, und ich muss Norbert sowieso viel zu oft alleine lassen, wenn ich in der Arbeit bin. Sein Papa wohnt nicht mehr bei uns und das Alleinsein ist gar nicht gut für den Kleinen. Kein Wunder, wenn er sich manchmal daneben benimmt, aber, was soll ich denn machen?“ sprudelte es nun aus Sonja heraus.
„ Wo wohnen sie denn?“ fragte Agnes.
„In der Richard-Wagnerstrasse, gleich um die Ecke.“ antwortete Sonja.
„Das ist aber ein Zufall,“strahlte Agnes nun übers ganze Gesicht,“ „Ich wohne nur eine Strasse weiter, in der Goethestrasse! Alleine, weil meine Kinder in ganz Deutschland verstreut leben. Eines meiner Enkelkinder dürfte ungefähr so alt sein, wie ihr Sohn. Ich vermisse sie sehr, aber was hilfts. Das ist nun einmal so und ich kann es auch nicht ändern. Wissen sie was? Besuchen sie mich einfach mal mit Norbert, wenn sie Lust haben. Ich bin nicht mehr gut zu Fuß und nur selten schaff ich’s noch aus eigener Kraft bis hierher ins Kaffeehaus. Deshalb bin ich meist ganz alleine und würde mich so sehr über Besuch und ein wenig Ansprache freuen!“
„Ja, wirklich gerne,“ strahlte Sonja zurück und zu Norbert. „ Na, was meinst du, besuchen wir .... ?“
„Agnes! Agnes heisse ich!“ stellte diese sich nun auch vor.
„Also, Norbert, hast du Lust, Agnes zu besuchen?“ beendete die Mutter ihre Frage.
Norbert hatte Agnes schon jetzt in sein Herz geschlossen, so wie sie auch ihn.
Kinder und ältere Menschen haben oft einiges gemeinsam, vor allem, wenn sie sich einsam fühlen.
Sie spüren in ihren Herzen schnell, wenn es jemand gut mit ihnen meint und können sich gegenseitig einiges  geben: Aufmerksamkeit, Zuwendung, Lebensfreude,
neuen Mut, Wissen und noch viel mehr.

„Geschafft, Lothar! Komm, lass uns zu Oskar zurückfliegen. Der freut sich sicher sehr, wie wir das hingekriegt haben. Bin schon gespannt, auf unseren nächsten Auftrag. Da ist ja viel Bedarf, hier auf der Erde.“
Mit diesen Worten nahm Berti seinen Engelkollegen an der Hand und sie flatterten stolz und glücklich zurück in den Himmel, wo Oskar sehr zufrieden mit den Beiden, schon mit der nächsten Aufgabe auf sie wartete. „Aus den Beiden werden noch ganz Klasse Schutzengel,“ dachte er, während er ihnen nachschaute, als sie sich auf den Weg machten, um sich erneut zur Erde zu begeben.
Hier wartete die kleine Nina sehnsüchtig darauf, dass doch endlich mal ein Engel kommen würde, der sich um sie kümmerte.

Norbert und seine Mutter besuchten Agnes schon in der nächsten Woche. Die Drei verstanden sich so gut, dass Norbert bald darauf regelmäßig, dreimal die Woche, wenn Sonja nachmittags arbeiten musste, den Nachmittag bei Agnes verbringen durfte.
Sie hatte eine Engelsgeduld, wenn sie ihm bei den Hausaufgaben half, las ihm leidenschaftlich gerne aus spannenden Märchenbüchern vor und brachte ihm Dame, Mühle und andere Brettspiele bei.
Er hingegen war unheimlich stolz und fühlte sich wie ein Großer, wenn er ihr bei Dingen helfen durfte, die sie selbst nicht mehr erledigen konnte - Wie zB. den Müll die Treppen hinunter zu tragen, kleine Besorgungen im Supermarkt zu tätigen oder auch auf eine Staffelei zu steigen, um ihr vom obersten Fach aus dem Schrank etwas zu holen.
Da Agnes schon seit einiger Zeit nach einer Haushaltshilfe gesucht, jedoch noch keine gefunden hatte, bekam Sonja diesen Job und konnte sich damit nebenher noch ein wenig Geld dazu verdienen.
Im Laufe der Zeit wuchsen Agnes, Norbert und Sonja, richtig zusammen.

Nach einem halben Jahr fragte Norbert: „Agneeeeees?“

„Ja, was ist denn, mein Kleiner?“

„Duuuhuu, ich würde soo gerne Oma zu dir sagen. Meine Großeltern wohnen noch weiter weg, als Deine Enkelkinder. Du könntest doch meine Ersatz-Omi und ich dein Ersatz-Enkelsohn sein? Was hältst du davon? Ich glaube, Mama würde sich auch darüber freuen. Gestern hab’ ich gehört, wie sie zu ihrer Freundin gesagt hat, dass sie so froh ist, weil sie mich bei meiner „Ersatz-Omi“ so gut aufgehoben weiß. Und ich hab dich schon so lieb, wie eine richtige Omi!“

Mit Freudentränen in den Augen und einem unbeschreiblichen Glücksgefühl im Herzen, nahm Agnes Norbert in den Arm, drückte ihn herzlich an sich und sagte:

„ Danke, Norbert! Ich hab’ dich ebenso lieb. Damit machst du mich sehr glücklich!“

„Du mich auch“ flüsterte ihr Norbert, kaum hörbar, aber für Agnes sehr wohl spürbar, in ihr Herz.

 
 
 

 

 

 

 

 

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